15.12.2012 · Georg Pieper machte sich keine Illusion, als er nach Athen fuhr. Aber was der Traumatherapeut dort sah, hat die schlimmsten Befürchtungen übertroffen: Die griechische Gesellschaft explodiert unter dem Druck der Krise.
Von Melanie Mühl
© AFP Ein Land unter Schock: Die Familie Tsouvalakis verlor mit der Stelle des Mannes die Lebensgrundlage
Traumata sind Georg Piepers Geschäft. Wann immer in den vergangenen Jahrzehnten eine Katastrophe über Deutschland hereinbrach, war der Traumatologe zur Stelle, das war 1988 beim Grubenunglück in Borken so, das war so bei dem ICE-Unglück in Eschede und auch beim Erfurter Amoklauf. Nach den Anschlägen in Oslo und Utøya ist Pieper nach Norwegen gereist und hat die Kollegen dort betreut. Georg Pieper weiß, was es heißt, genau hinzuschauen und die Dimension einer Katastrophe zu ermessen.
Erst vor wenigen Wochen, im Oktober, verbrachte Pieper einige Tage in Athen, wo er Psychologen, Psychiater und Ärzte in Sachen Traumatherapie fortbildete, unentgeltlich freilich, das Land ist, wie wir alle wissen, in der Krise, weshalb sich Pieper auf einiges gefasst gemacht hatte, als er dorthin aufbrach. Doch die Realität hat seine düsteren Erwartungen übertroffen.
Abwehrmechanismus der Politiker
Für den deutschen Nachrichtenkonsumenten ist die Krise sehr weit weg und nicht mehr als eine ferne Bedrohung irgendwo am Horizont. Sie erschließt sich uns in allererster Linie durch Begriffe wie Rettungsschirm, Schuldenschnitt, Milliardenlöcher, Misswirtschaft, Troika, Hilfspakete, Schuldenrückkauf oder Bankenrettung, ohne dass wir verstehen würden, was all diese Wörter eigentlich bedeuten. Statt die globalen Zusammenhänge zu verstehen, sehen wir Angela Merkel in Berlin, Brüssel oder sonst wo mit ernster Miene aus dunklen Limousinen steigen, auf dem Weg zum nächsten Gipfel, wo Griechenlands und damit Europas Rettung wieder ein Stück weiter vorangebracht werden soll.
Nur die Wahrheit erfahren wir nicht, nicht über Griechenland, nicht über Deutschland, nicht über Europa. Offenbar wagt es niemand, sie uns zu sagen. Pieper nennt das, was da gerade vor unser aller Augen geschieht, eine „gigantische Verdrängungsleistung“. Besonders der Abwehrmechanismus der Politiker funktioniere hervorragend.
Verdoppelte Selbstmordrate
Georg Pieper neigt nicht zum Verdrängen. Griechenland sah im Oktober 2012 für ihn folgendermaßen aus: Hochschwangere Frauen eilen bettelnd von Krankenhaus zu Krankenhaus, doch weil sie weder eine Krankenversicherung noch genügend Geld haben, will niemand ihnen helfen, ihr Kind zur Welt zu bringen. Menschen, die noch vor kurzem zur Mittelschicht zählten, sammeln in einem Athener Vorort Obst- und Gemüsereste von der Straße, Junge, Alte, Kinder, während neben ihnen die Marktstände abgebaut werden. Auf das Essen haben es allerdings auch die Tauben abgesehen.
Ein alter Mann erzählt einem Reporter, dass er sich die Medikamente gegen seine Herzbeschwerden nicht mehr leisten kann. Seine Rente wurde wie die Rente vieler anderer um die Hälfte gekürzt. Mehr als vierzig Jahre hat er gearbeitet, er dachte, er habe alles richtig gemacht, jetzt versteht er die Welt nicht mehr. Wer in ein Krankenhaus geht, muss seine eigene Bettwäsche mitbringen, ebenso sein Essen. Seit das Putzpersonal entlassen wurde, putzen Ärzte, Schwestern und Pfleger, die seit Monaten kein Gehalt mehr bezogen haben, die Toiletten. Es fehlt an Einweghandschuhen und Kathetern. Die Europäische Union warnt angesichts der teilweise verheerenden hygienischen Bedingungen vor der Gefahr einer Ausbreitung von Infektionskrankheiten.
Ganze Wohnblocks sind mittlerweile aus finanziellen Gründen von der Öllieferung abgeschnitten. Damit die Menschen im Winter nicht frierend in ihren Wohnungen hocken müssen, beheizen sie diese mit kleinen Öfen. Das Holz dafür schlagen sie illegal. Im Frühling dieses Jahres hat sich ein siebenundsiebzigjähriger Mann vor dem Parlament in Athen erschossen. Kurz vor seiner Tat soll er gerufen haben: „So hinterlasse ich meinen Kindern keine Schulden.“ Die Selbstmordrate hat sich in den vergangenen drei Jahren verdoppelt.
Die Depression der Männer
Ein Trauma ist ein Ereignis, das die Erfahrungswelt des Einzelnen bis in seine Grundfesten erschüttert. Das Erlebte ist derart übermächtig, dass es den Betroffenen in einen Strudel absoluter Hilflosigkeit zieht. Nichts ist mehr, wie es einmal war, und nichts wird jemals wieder so sein. Nur ein Zyniker spricht im Hinblick auf Griechenland noch von sozialem Abstieg. Es ist viel mehr als das: Eine Gesellschaft fällt ins Bodenlose. Wir erleben gerade eine kollektive Traumatisierung.
„Besonders hart trifft die Krise die Männer“, sagt Pieper. Männer ziehen ihre Identität bekanntlich viel stärker als Frauen aus der Arbeit, aus ihrem Marktwert also. Aber der Marktwert der allermeisten sinkt unaufhörlich, und die Arbeit wird nicht mehr in derselben Höhe entlohnt, wie es früher der Fall war. Oft fällt sie gleich ganz weg, ohne dass es Aussicht auf eine neue Stelle gäbe. Die Männer fallen in ein tiefes Loch. Es ist auch ein Angriff auf ihre Männlichkeit. Psychische Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen breiten sich in Griechenland inzwischen epidemisch aus. Da sich nur noch die wenigsten therapeutische Hilfe leisten können, bleiben die Kranken in der Regel unbehandelt. Niemand wird überrascht sein, dass drei Viertel aller Suizide von Männern begangen werden.
Das starke Geschlecht stellen im Moment die griechischen Frauen dar. Sie verbinden ihre berufliche Tätigkeit eher mit Pragmatismus als mit Stolz, weshalb sie weniger tief fallen als die Männer. Ihr flexibles Rollenverständnis ist der beste Schutz gegen die Krise, aber er wird nicht ausreichen, um sie zu besiegen.
Glocke der Solidarität
Man muss weder ein Pessimist noch ein Experte sein, um sich auszumalen, was das für die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander und für den Kitt der griechischen Gesellschaft bedeutet. Die Wut auf ein korruptes, pervertiertes System sowie die internationale Politik, deren Geldtranchen in die Rettung der Banken fließen, aber nicht in die Rettung der Menschen, ist ungeheuerlich, und sie wächst unaufhaltsam. Die Männer tragen diese Wut in ihre Familien, und die Söhne verarbeiten sie stellvertretend auf der Straße. Die Zahl der gewalttätigen Banden, die Minderheiten attackieren, steigt.
Im November sprach Amerika deshalb eine Reisewarnung für Griechenland aus – besonders gefährdet seien derzeit Menschen mit dunkler Hautfarbe. Gerade bei einem Land wie Griechenland, zu dessen Selbstverständnis die Gastfreundschaft zählt, die Offenheit Fremden gegenüber, schockiere ihn das, sagt Pieper. Die Rechtsradikalenpartei Chrysi Avgi liegt in Umfragen bereits bei zwölf Prozent, sie wäre damit die drittstärkste Kraft im Land. Soeben ist im Knaus-Verlag Georg Piepers neues Buch erschienen, es heißt „Überleben oder Scheitern. Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen“. Es ist ein eindrucksvolles, ein positives Buch, das zeigt, wie erstaunlich die Überlebenskräfte des Einzelnen sind. Selbst der verheerendste Schicksalsschlag muss einen nicht zwangsläufig in die Knie zwingen, denn jeder von uns ist mit einem enormen Überlebenswillen ausgestattet. So weit die gute Nachricht.
Die schlechte lautet, dass es dafür eine funktionierende Gesellschaft braucht, ein Netz, das einen auffängt. Welche Kraft eine solche Gesellschaft entfalten kann, zeigt auf eindrucksvolle Weise das Beispiel Utøya. Ganz Norwegen stand den Betroffenen nach dem Massaker bei, es war, als hätte jemand eine Glocke der Solidarität über das Land gestülpt.
In Griechenland wurde die funktionierende Gesellschaft so lange ausgehöhlt, bis sie schließlich zusammengebrochen ist wie ein marodes Haus. Die Krise hat den Sozialstaat zerstört. „Der Mensch“, sagt Pieper, „wird in solchen dramatischen Situationen, wie wir sie gerade in Griechenland beobachten, zu einer Art Raubtier. Er sieht nur noch sich selbst und sein eigenes Überleben.“ Die schiere Notwendigkeit treibt ihn in die Unvernunft, und diese Unvernunft bedeutet im schlimmsten Fall Kriminalität. An die Stelle der Solidarität tritt Egoismus.
Vor wenigen Tagen veröffentlichte Transparency International wie jedes Jahr einen Korruptionsindex. Dass Griechenland ein ziemlich großes Problem mit Korruption hat, ist nicht neu, wie groß es wirklich ist, zeigt nun der Bericht. Griechenland belegt innerhalb der Europäischen Union den letzten Rang und lässt sich bezüglich der Korruption mit Kolumbien oder Djibouti vergleichen. Solche Nachrichten sind pures Gift.
Georg Pieper sagt: „Ich frage mich, wie viel diese Gesellschaft noch aushalten kann, bevor sie explodiert.“ Griechenland stehe kurz vor einem Bürgerkrieg. Es scheint lediglich noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sich die kollektive Verzweiflung der Menschen in Gewalt entlädt und über das Land ausbreitet. Und davon sind wir alle betroffen.
Quelle: FAZ vom 15.12.2012 und unzensuriert.wordpress.com / StaSeVe vom 17. & 18.12.2012
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